Wien – Rund 300 Schülerinnen und Schüler sind dem Aufruf der SPÖ-nahen Aktion kritischer Schüler_innen (AKS) gefolgt und haben sich am Mittwochvormittag vor dem Wiener Stephansdom versammelt, um gegen die Maturaregeln zu demonstrieren. "Streik in der Schule, Streik in der Fabrik: Das ist unsere Antwort auf eure Politik", skandieren die Jugendlichen in der Innenstadt. Auf ihren Schildern fordern sie "eine faire Matura für alle", rufen zu "Schulstreik" auf und geben sich "entsetzt" über die aktuelle Situation.

Die Schülerinnen und Schüler demonstrieren für faire Maturabedingungen in Pandemiezeiten.
Foto: Oona Kroisleitner

Neben Wien waren auch Kundgebungen in einigen anderen Landeshauptstädten geplant. In Innsbruck versammelten sich am frühen Nachmittag rund 100 Jugendliche am Landhausplatz um in Richtung Bildungsdirektion Tirol zu ziehen.

Die von der VP-nahen Schülerunion dominierte Bundesschülervertretung lehnt die Proteste ab, ist aber ebenfalls nur für eine freiwillige mündliche Reifeprüfung. Sie will jedoch ein Einlenken des Bildungsministers in Verhandlungen erreichen.

Etwa 300 Jugendliche zogen durch die Wiener Innenstadt.
Foto: APA/TOBIAS STEINMAURER

"Die Matura ist nicht gerecht, wenn der Stoff nicht gekürzt wird. Wir waren 100 Tage im Distance-Learning", erzählt etwa die 18-jährige Nadja am Stephansplatz. Sie will, dass die mündliche Matura nur freiwillig stattfindet, und fordert: "30 Prozent weniger Stoff auch bei der schriftlichen Prüfung." Der aktuelle Jahrgang sei noch "viel stärker von Corona betroffen" als vorangegangene, kritisiert die Wiener AKS-Chefin Anna Blume auf einem Kastenwagen, der den Aktivistinnen und Aktivisten als Bühne dient: "Wir sind hier, um dem Bildungsminister unsere Meinung zu sagen: Es kann so nicht weitergehen."

Wer in den vergangenen zwei Jahren nicht mündlich antreten wollte, musste das auch nicht. Dann wurde in dem jeweiligen Fach die Note der Abschlussklasse ins Maturazeugnis eingetragen.

Politische und gesellschaftliche Unterstützung

Unterstützung erhalten die streikenden Jugendlichen von der SPÖ. Der Nationalratsabgeordnete Jörg Leichtfried hat sich unter die Demonstrierenden gemischt: "Es heißt immer, die Politik soll zuhören. Dafür bin ich hier." Die SPÖ wolle in der nächsten Nationalratssitzung einen Antrag einbringen, der die mündliche Matura zu einer freiwilligen Sache macht, sagt Leichtfried.

Die Details der Maturaregelung – etwa ob auch Stoffgebiete bei dem schriftlichen Teil gekürzt werden sollen – müsse man sich noch anschauen, erklärt der Politiker. In den vergangenen Jahren habe es sich bewährt, dass die mündliche Abschlussprüfung auf Freiwilligkeit beruhe. "Ich sehe keinen Grund, das jetzt zu ändern. Die Generation, die jetzt maturiert, hat ja die Folgen der Pandemie am längsten und am massivsten gespürt", sagt Leichtfried dem STANDARD.

Unter die Jugendlichen mischte sich auch Jörg Leichtfried, Nationalratsabgeordneter der SPÖ.
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Nachdem einzelne grüne Abgeordnete und auch die Jugendorganisationen der Grünen sich in ähnliche Richtung geäußert hatten, geht man in der SPÖ auch von einer breiten Zustimmung aus. "Man muss sich die psychosoziale Situation der Jugendlichen anschauen, da macht es wenig Sinn, gerade jetzt den Leistungsdruck zu erhöhen", sagte vor kurzem etwa die grüne Jugendsprecherin und Nationalratsabgeordnete Barbara Neßler zu dem Thema.

"Für eine 'Matura wie damals' ist es heuer einfach noch zu früh", kommentierte auch die SPÖ-Bildungssprecherin Petra Vorderwinkler die Proteste. Angesichts der Tatsache, dass es sich beim heurigen Maturajahrgang um lauter Schülerinnen und Schüler handle, die allesamt seit der sechsten Schulstufe mit einem pandemischen Dauerausnahmezustand konfrontiert gewesen seien, der sich mit einem "katastrophalen Management" seitens des Bildungsministeriums gepaart habe, könne man aus Sicht von Vorderwinkler noch nicht zum Normalbetrieb zurückkehren.

Mündliche Matura "unfair"

Allein aus "Gerechtigkeitsgründen" sei es nicht nachvollziehbar, dass nach zwei Jahren der Freiwilligkeit die mündliche Matura nun wieder verpflichtend sein soll, sagt auch Daniel Landau. Der Mitorganisator des Lichtermeers ist auch auf dem Stephansplatz und unterstützt die Streiks. "Ich appelliere dringend daran, dass man mit den Schülerinnen und Schülern eine gemeinsame Lösung findet. Die Jugend leidet am stärksten", sagt Landau dem STANDARD.

Mit Schildern wird der Unmut bekundet.
Foto: Oona Kroisleitner

"Ohne Erleichterungen ist es nicht fair. Wir hatten zwei Jahre lang Distance-Learning, das war auch für die Psyche schwierig", betont auch die 18-jährige Soraja. Jetzt sei der Leistungsdruck besonders hoch. "Wie soll ich die Matura schreiben? Wir haben viel zu wenig Stoff durchgenommen", sagt die Maturantin. Sie sei "wütend", dass die Schülerinnen und Schüler nicht gehört würden. "Wir sollten in die Entscheidung eingebunden werden. Nur weil wir jung sind, heißt das nicht, dass unsere Stimme keinen Wert hat."

"Notstopp in der Schule"

Zuletzt forderte Landau auch einen "Notstopp" in der Schule. Die aktuelle Corona-Situation – am Mittwoch meldeten die Ministerien rund 34.000 Neuinfektionen – mache dies notwendig. In den vergangenen beiden Jahren sei weder "die Luftthematik" gelöst worden, noch seien zusätzliche Räume bereitgestellt worden. "All das hat in den vergangenen Wochen explosiv zu einem Anstieg geführt", sagt Landau – in allen pädagogischen Einrichtungen. "Das ist so in der Form nicht zumutbar."

34.000 Neuinfektionen wurden am Mittwoch von den Ministerien gemeldet.
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Ein "Notstopp" bedeute, den Lehrenden sofort zu suggerieren, dass die Prüfungen einzustellen seien. Die Freiwilligkeit des Schulbesuchs, die postuliert würde, sei "verhöhnend", wenn es zugleich Schularbeiten gebe. "'Druck raus' ist der Punkt, den wir fordern. Das würde dazu führen, dass viele Schülerinnen und Schüler jetzt nicht in die Schule gehen", glaubt Landau. Damit würde sich die Situation schlagartig entspannen. In früheren Wellen seien geschlossene Schulen und Distance-Learning eine große Belastung für die Kinder und Jugendlichen gewesen, vor allem dort, wo zu Hause wenig geholfen würde. "Mittlerweile ist es die offene Schule, der Zwang, der damit einhergeht", sagt Landau, der selbst Lehrer ist.

Auch der Bildungsminister war auf den Schildern der Jugendlichen Thema.
Foto: APA/TOBIAS STEINMAURER

Er wünsche sich, dass die Form des Schulabschlusses grundlegend neugestaltet würde. "Das man jetzt verpflichtend mündlich prüft und so tut, als ob das Normalität wäre, ist eine Frechheit", sagt er. Die schlechte Luft sei schon lange ein Problem. Die Bedingungen in der Schule würden es schwierig machen, sich zu konzentrieren. In den Kindergärten, sagt Landau brauche es endlich kleinere Gruppen. "Sehen wir das Brennglas Covid, das uns diese Themen so deutlich vor Augen führt, als Chance, hier langfristig etwas zu verbessern."

Rücktritt von Polaschek gefordert

Vom Stephansplatz zogen die Streikenden durch die Wiener Innenstadt zum Minoritenplatz. Dort wurde dann der Rücktritt von Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) gefordert. "Polaschek muss weg", riefen die Demonstrierenden vor dem Ministeriumsgebäude.

Auch der Rücktritt von Minister Martin Polaschek wurde am Mittwoch gefordert.
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"Er soll unsere Forderungen annehmen oder zurücktreten", sagt der 17-jährige Dinaras, der auf seiner weißen FFP2-Maske einen Sticker mit durchgestrichenem Polaschek trägt. Er selbst wird erst im nächsten Jahr maturieren, unterstützt aber seine Freundin Shirin, die kurz vor dem Abschluss steht. "Die Erleichterung, dass wir eine Stunde länger Zeit für die schriftliche Prüfung haben, ist völlig unnötig und bringt uns gar nichts", sagt die Schülerin: "Es sollte eine Stoffreduktion geben und ein Drittel der Themen gekürzt werden. Wir haben so viel Stoff verpasst durch das Distance-Learning."

Keine großen Ausfälle in der Schule

Wegen der geringen Zahl an Teilnehmenden sei es an den Schulen kaum zu auffälligen Abwesenheiten gekommen, erklärten AHS-Direktorensprecherin Isabella Zins und ihr BMHS-Pendant Franz Reithuber laut APA. Die Schulleitungen seien froh "über die Reife eines weit überwiegenden Teils" der Maturantinnen und Maturanten: "Die meisten Jugendlichen vertrauen auf ihre eigene Leistungsfähigkeit und nützen die Unterrichtszeit intensiv für die Maturavorbereitung: Sie schreiben mehrstündige Schularbeiten als Vorbereitung auf die Klausuren, finalisieren ihre vorwissenschaftlichen Arbeiten bzw. Diplomarbeiten und arbeiten auf möglichst gute Noten in allen Fächern hin", hieß es in einer Stellungnahme.(ook, 26.1.2022)